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Segelmacher Morten Nickel ist Inhaber und Geschäftsführer der Segelwerkstatt Stade an der Elbe und verfügt über langjährige Erfahrung und fundiertes Wissen rund um das Thema Segel.
Der Einsatz von Vorsegeln auf Fahrtenyachten
Blauwasseryachten sind in der Bauart, der Größe und der technischen Ausstattung sehr unterschiedlich. Mindestens genauso unterschiedlich wie die Yachten sind die Ansprüche und die Erfahrung der segelnden Crew. Die Vorstellungen einer jeden einzelnen Blauwasser-Crew hinsichtlich der optimalen Besegelung fallen von Yacht zu Yacht völlig unterschiedlich aus. Vor dem Hintergrund ist es nicht einfach, Hinweise zur Wahl des richtigen Vorsegel-Konzeptes zu geben. Ich möchte es aber dennoch versuchen 🙂
Ich persönlich halte das Vorsegel für das wichtigste Segel an Bord einer Fahrtenyacht, weil es einfach immer benutzt werden kann — auch alleinstehend. Natürlich kann ein Großsegel ebenfalls alleinstehend benutzt werden, aber nicht ernsthaft hoch am Wind, weil dann das Vorsegel als Gegenspieler fehlt, um Höhe zu laufen. Mit einem alleine gesetzten Vorsegel kann hingegen sehr passabel Höhe gelaufen werden. Zwar weniger perfekt, als wenn das Großsegel zusätzlich gesetzt wurde, aber im Vergleich zum alleinig gesetzten Großsegel deutlich besser.
Die erste Frage, die beim Thema Vorsegel-Konzept in den Sinn kommt, lautet „Fock oder Genua?“ und führt schnell zu einer Grundsatz-Diskussion. Auf der einen Seite lässt es sich mit einer Genua bei leichten Winden schneller segeln als mit einer Fock. Auf der anderen Seite ist sie das deutlich nachteiligere Segel, wenn der Wind zunimmt. Die große Segelfläche muss dann bereits frühzeitig verkleinert werden.
Am einfachsten haben es Segler, die auf einem Binnenrevier unterwegs sind oder nur Tagestouren segeln. Sie werden sich in der Regel schon im Hafen für das richtige Vorsegel entscheiden und einen Segelwechsel über den Tag vermeiden. Noch einfacher haben es Eigner mit einer Selbstwende-Fock.
Glücklich schätzen können sich auch alle Segler, die ein hohes, schlankes Rigg mit einem kleinen Vorsegeldreieck und einem großen Großsegel ihr Eigen nennen. Hier ist der Segelplan in den meisten Fällen so gezeichnet, dass man mit der Genua 3 oder der Fock fast alle Bereiche abdecken kann. Wenn dann noch für die Abschnitte mit leichten Winden ein Code Zero an Bord ist, sind alle Voraussetzungen für schnelles, sicheres und arbeitsarmes Segeln gegeben.
Bei der überwiegenden Mehrzahl der Fahrtenyachten ist die Situation aber eine andere. Kommt früher oder später der Wunsch auf, aus den bereits oft befahrenen Revieren auszubrechen und zu neuen Ufern zu starten, muss sich über die Vorsegel-Garderobe Gedanken gemacht werden. Denn spätestens dann werden auch längere Tagestouren, Übernachtfahrten und sogar Törns über mehrere Tage eingeplant. Und das führt zwingend dazu, sich Gedanken über mögliche und einfache Vorsegelwechsel zu machen. Die Wind- und Wetterbedingen werden über so lange Zeiträume nicht konstant sein.
Umgang mit Vorsegelwechseln
Ist die Yacht noch klassisch mit Stagreitern ausgerüstet, ergibt sich die Lösung von alleine. Bei zunehmendem Wind müssen die größeren Vorsegel runter und kleinere Tücher gesetzt werden. Dies kann je nach Situation anstrengend sein, ist normalerweise aber relativ sicher und gut zu erledigen. Viele Langfahrtcrews empfinden diese Segelwechsel auf Dauer jedoch als nervig – etwa, wenn auf einer Ozeanüberquerung regelmäßig Squalls durchziehen.
In der Folge fährt heutzutage kaum noch jemand Stagreiter und mit ihnen ausgerüstete Yachten sind eher die Minderheit auf Weltumsegelungen. Die große Mehrzahl der Yachten ist inzwischen mit Rollreffanlagen ausgerüstet. Dies hat viele vernünftige Gründe: Zum einen kann das Vorsegel bei allen Manövern schnell, einfach und sicher weggenommen werden. Zum anderen kann im Notfall das Segel eingerollt und damit gerefft werden. Dies ist angenehm und schnell gemacht, birgt aber auch eine ganze Reihe von Nachteilen. So muss das Segel für ein Rollreffen ausgelegt sein – sprich, es muss aus schwererem Tuch gefertigt werden. Ein klarer Nachteil bei wenig und mittlerem Wind! Das Segel wird nicht den optimalen Vortrieb erzeugen.
Ein weiterer Minuspunkt ergibt sich aus dem Aufrollen selber. Bei diesem Vorgang wird das Segelprofil, der sogenannte Bauch des Segels, immer weiter nach achtern gedrückt und dies bei einem kürzer werdenden Unterliek. Das Segel wird zu bauchig und dies auch noch bei höheren Windgeschwindigkeiten und bei zunehmender Welle. Vor allem auf Amwind-Kursen ist dies von Nachteil. Der Vortrieb und der Komfort an Bord leiden sehr stark. Für den Fahrtensegler, der nur kurze oder mittlere Strecken segelt, mag dies vorübergehend akzeptabel sein, für den Langfahrtsegler auf Blauwasser-Törn ist es das auf keinen Fall.
Ein Segelwechsel an der Rollanlage auf hoher See mit einer Zwei-Personen-Crew (das ist die häufigste Konstellation) oder gar bei Einhandseglern ist äußerst schwierig. Sobald das Fall gefiert wird und das Vorliek aus den Aluprofilen rutscht, wird das gesamte Segel nur noch am Kopf, am Hals und an der Schot gehalten. Es ist nicht ausreichend fixiert und schlägt an und über dem Deck. Dies alles bei zunehmendem Wind und zunehmender Welle zu meistern, ist falscher Ehrgeiz und bringt auch eine nicht zu verachtende Verletzungs- und Mensch-über-Bord-Gefahr mit sich. Wer will sich dieses Manöver antun?
Somit stellt sich die Frage: Wie kann eine vernünftige Lösung aussehen? Aus meiner Sicht ist das von der Größe der Yacht abhängig. Sollte beispielsweise die Möglichkeit bestehen, zwei Rollanlagen oder zwei Vorstagen auf dem Schiff zu platzieren, kann auf dem vorderen Stag bequem die Genua und auf dem achteren die Fock gefahren werden. Das ist eine sehr gute Lösung für ein Blauwasserschiff, denn sie bedeutet maximale Flexibilität und Komfort beim Segeln. Alternativ kann sich auch mit der Idee eines Kutterstags auseinandergesetzt werden.
Hinweise für Yachten mit nur einem Vorstag
Segelmacher und Werften geben die Größe eines Segels gern in Prozent an. Bei dieser Angabe entsprechen 100 Prozent Segelfläche dem Dreieck zwischen Mast, Vorstag und Deck. Eine große Genua (auch Genua 1 genannt) hat ca. 150 Prozent. Eine kleine Genua (Genua 3) ca. 110 Prozent. Eine Fock wiederum eher nur 90 Prozent.
Können auf einem Blauwasserschiff keine zwei Vorstagen hintereinander realisiert werden, sollte beim Vorsegel darauf geachtet werden, dass 120 Prozent nicht überschritten werden, andernfalls wird die Handhabung zu schwer. Das bedeutet, dass das Segel maximal 20 Prozent größer als das vorstehend genannte Dreieck sein sollte. Oder anders ausgedrückt: Es sollte den Mast nicht mehr als 20 Prozent nach achtern überlappen – besser sind 10 Prozent. Solch eine Segelfläche hat eine größere Fock oder auch eine Genua 3.
Der Vorteil des kleineren Vorsegels ist, dass es deutlich später als eine Genua 1 gerefft werden muss. Es behält damit viel länger das vorteilhafte Profil, was gerade auf Amwind-Kursen von Bedeutung ist. Schwachwind-Phasen können wie gesagt mit einem Code-Zero oder Gennaker überbrückt werden.
Hinweise zu Yachten mit zwei Vorstagen
Können zwei Stagen realisiert werden, muss sich über die Positionen an Deck und am Masttopp Gedanken gemacht werden. Hierbei kann ein erfahrener Segelmacher oder Mastenbauer helfen. Denn gerade aus aerodynamischer Sicht ist der richtige Abstand des zweiten Stags zur aufgerollten Genua sehr wichtig. Bei einer Yachtgröße von zehn Metern sollte er beispielsweise mindestens 60 Zentimeter betragen, bei einer zwölf Meter langen Fahrtenyacht sind eher 80 bis 90 Zentimeter empfehlenswert.
Eine vernünftige Kraftaufnahme an Deck ist für jeden Eigner einer Blauwasseryacht selbstverständlich. Doch auch die Krafteinleitung in das Rigg muss wohl überlegt sein. Oft reicht es nicht, einen soliden Beschlag an den Mast anzubringen. Vielmehr muss die eingeleitete Kraft auch weiter verteilt werden. Hier stehen das Achterstag, unter Umständen Backstagen oder stark gepfeilte Salinge zur Auswahl. Spätestens jetzt muss ein Fachmann an Bord, sei es ein Mastenbauer, ein Segelmacher, ein Bootsbauer oder ein Yachtkonstrukteur.
Sind die beiden Befestigungspunkte ausgewählt und montiert, steht die nächste Frage an: Soll das zweite Segel mit Stagreitern an einem Stag oder an einer Rollanlage gefahren werden? Beide Varianten haben ihre Vor- und ihre Nachteile und jeder Segler sollte sorgsam prüfen, was besser zum eigenen Segel-Wohlfühl-Anspruch passt.
Beispielsweise hat sich der deutsche Extrem-Segler Uwe Röttgering für seine 50.000 Seemeilen Einhand-Weltumsegelung für ein Kutterstag entschieden, ebenso die Weltumsegler und Buchautoren Judith und Sönke Roever. Es gibt aber auch genug Gegenbeispiele. Schaut man sich auf Weltumsegler-Schiffen um, sind zwei Rollanlagen hintereinander insbesondere auf der Barfußroute sehr verbreitet.
Wird die Kutterfock mit Stagreitern gefahren, sollte das Stag einfach wegzubinden sein, sobald das Segel nicht genutzt wird. Dafür gibt es im Fachhandel spezielle Schnellspanner, die ein unkompliziertes Setzen und Bergen des Kutterstags erlauben. Das weggenommene Stag hängt dann am Mast wie ein ungenutztes Genuafall. Sehr vorteilhaft bei dieser Variante ist auch das geringe Toppgewicht.
Anders verhält es sich bei der Rollanlage: Diese ist fest montiert und bringt damit ein deutlich höheres Gewicht in das Rigg. Außerdem stört bei Wende mit der Genua das hintere Stag und führt gegebenenfalls dazu, dass das große Vorsegel ein- und wieder ausgerollt werden muss.
Ein klarer Vorteil der fest installierten Rollanlage hingegen ist die Sicherheit und die extrem leichte Bedienung. Mit der Rollreffanlage erfolgt der Segelwechsel aus dem geschützten Cockpit und ist ohne großen Kraftaufwand von einer Person zu bewältigen. Ein kleiner, aber angenehmer Nebeneffekt ist zudem, dass Segel nicht zusammengelegt werden müssen und nasse Segel nicht unter Deck kommen – wohlgemerkt in einer salzigen Umgebung.
Weitere Faktoren bei der Wahl des Vorsegels
Darüber hinaus ist bei der Segelauswahl selbst einiges zu beachten. Beispielsweise ist es wichtig, dass das Kutterstagsegel nicht zu klein gewählt wird. Die Yacht soll ja noch gut segeln und auch bei starker Welle ihre Manöverfähigkeit nicht einbüßen. Andererseits darf das Segel nicht zu groß sein. Mit einer Kutterfock müssen alle Schwerwetterbedingungen, bis hin zum Einsatz der Sturmfock, gemeistert werden können.
Hier sollte ein erfahrener Segelmacher die Beratung an Bord übernehmen. Grundsätzlich ist eine Beratung auch telefonisch auf der Grundlage eines guten Segelplans oder eines Aufmaßes möglich. Werftangaben, Bilder oder telefonische Beschreibungen reichen aber in alle Regel für ein fundiertes Gespräch nicht aus.
Und nicht zuletzt ist das Segeltuch ein weiterer wichtiger Baustein. Hier hängt die Entscheidung ebenfalls von mehreren Faktoren ab. Wie viel Geld soll investiert werden? Wird gerollt und gegebenenfalls auch gerollrefft? Wird ein Stagreitersegel immer ordentlich zusammengelegt oder muss es eine schlechtere Behandlung aushalten? Wie wichtig ist dem Eigner im Sturm noch der gute Vortrieb?
Fazit
Der Eigner einer Yacht muss sich mit vielen Fragen und Überlegungen auseinandersetzen, wenn die Yacht mit einem optimalen Vorsegel-System ausgerüstet werden soll. Die überwiegende Mehrzahl der vorstehenden Punkte muss dazu wahrscheinlich individuell mit einem Segelmacher geklärt werden. Meine Ausführungen sollen dabei Anregung und Hilfe sein, schließlich träumen wir meist viele Jahre vom eigenen Törn, stecken viel Zeit in die Vorbereitung, damit die große Reise später sicher und komfortabel verläuft. Dazu trägt das richtige Vorsegel-Konzept massiv bei.
Fair winds!