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Gerald Penzl ist seit über 30 Jahren als freier Journalist und Fotograf zu Lande, zu Wasser und in der Luft unterwegs. Zu den Abnehmern seiner Reportagen zählen Reisejournale, Buchverlage, renommierte Tages- und Wochenzeitungen sowie Yacht- und Bootmagazine. Seine erste Segelsporen verdiente sich der promovierte Naturwissenschaftler Mitte der 1980ger auf den Maasplassen bei Roermond.
Auf den Spuren von Theodor Fontane erkundet Autor Gerald Penzl ein geschütztes Segelrevier mit Platz und Zielen für einen ganzen Urlaubstörn
Mit seinem Büchern Wanderungen durch die Mark Brandenburg hat Theodor Fontane den Seen- und Hügellandschaften zwischen Elbe und Oder ein literarisches Denkmal der Extraklasse gesetzt. Für die Recherchen seines fünfbändigen (!) Werks nutzte der Romancier neben der Eisenbahn auch gern das Passagierschiff. Von einer Dampferfahrt über die Oder nach Stettin allerdings rät er seinen Lesern ab. Bei niedrigem Wasserstand – so seine Erfahrung – werde die Reise nicht selten für Stunden unterbrochen oder müsse gar eingestellt werden. Zur Schiffbarkeit des Stettiner Haffs äußert sich Fontane nicht. Das viel zitierte „kleine Meer“ im Rücken der Ostsee ist für ihn weniger ein Wasserverkehrsweg als ein überzeitlicher Inbegriff von Ruhe und Beschaulichkeit.
Unser Schlüssel zu seinem Literatur-Vermächtnis ist eine Jeanneau Sun Legende 41. Die Fahrtenyacht zählt zu den älteren Semestern, sprich: hat das Licht der Werft erblickt, als Polen noch eine (realsozialistische) Volksrepublik war und im 150 Kilometer entfernten Ost-Berlin Erich Honecker das Sagen hatte. Aber das Alter der Yacht ist kein Manko. Im Gegenteil, die schneeweiße Lady ist gut in Schuss, hat neue Segelkleider und macht mit ihren sportlich ambitionierten Proportionen auch im Jahr 2022 noch eine „bella figura“.
Gleiches gilt für das Stadtpanorama der 400.000-Einwohner-Stadt Stettin. Mit den Mittagsglocken der markanten Johanneskirche lassen wir die Stettiner NorthEast Marina im Achterwasser, motoren auf die Oder und genießen den Blick auf die rund 500 m lange Haker'sche Prachtpromenade mit ihren Open-Air-Cafés, Wasserspielen und Neorenaissancepalästen. Unten am Pier dieser in Sandstein gemeißelten Augenweide liegt die Brigg Fryderyk Chopin. Ein paar Schiffslängen hinter dem Großsegler setzen sich Werftanlagen, Containerterminals und Speicherhallen in Szene. Wenige hundert Meter weiter dann prägt Mutter Natur das Bild.
Auch im Haff gibt es trotz Fahrwasser genug Platz zum Segeln
Segel setzen? Ja? Nein? Roberts Frage ist akademisch. Zwar ist die Oder hier und jetzt rund eineinhalb Kilometer breit, aber erstens weht uns der Wind direkt auf die Nase, wir müssten also kreuzen, kreuzen, kreuzen. Und zweitens ist der Fluss im Grunde nichts anderes als eine 11 Meter tief ausgebaggerte Seeschifffahrtsstraße. Damit sind hier vor allem dicke Berufspötte unterwegs. Und die kennen – wie man weiß – kein Pardon in Sachen Wegerecht.
Mit der roten Backbordtonne 30 dann reicht uns die Nagelei des Selbstzünders. Zwar sind es nur noch vier Seemeilen bis zu unserem Tagesziel Stepnica, aber was soll's? Also, das Groß aus der Lazybag und ab an die Winschen. Doch halt, wer denkt, das ginge locker und bequem vom Cockpit aus, der irrt. Bei unserer Jeanneau sind die Zugkraft-Helferlein nämlich am Großmast angeschlagen. „Nichts für Einhandsegler”, kommentiert Robert meinen Gang zum Vorschiff. Kurz darauf schickt er die 39 Perkins-Pferde per Knopfdruck zurück in die Koppel. „Endlich Ruhe im Boot!”
Punkt 17 Uhr schlummert das Groß wieder fachgerecht verpackt in seinem Baumkleid. Wir liegen in der Kapitan-Hilgendorf-Marina, halten einen netten Smalltalk mit dem Skipper eines Daysailers und machen uns dann auf den Weg ins Zentrum. Exorbitant Weltbewegendes gibt es in dem 2.500-Seelen-Örtchen nicht zu entdecken. Die zweite Marina, ein zwei Kilometer langer, wind- und wettergeschützter Kanal, ist interessant, das kleine Dorfkirchlein auch und die Infotafel über den Namensgeber der 2015 eröffneten Marina erst recht.
Die zünftige Küche erinnert an zuhause: Dorsch mit Bratkartoffeln und Spinat
Robert Hilgendorf – lese ich – erblickte hier 1851 das Licht der Welt, war in jungen Jahren bereits Kapitän auf großer Fahrt, hatte das Kommando über die vormals weltgrößte Fünfmastbark und umrundete das Kap Horn – man höre und staune – insgesamt 66 Mal. Die Hauptattraktion von Stepnica aber ist – zumindest für unsere kalorische Bedürfnislage – die Tawerna Panorama. Wenige Meter vom Anleger kredenzt die Küche solide polnische Hausmannskost. Wir ordern gebackenen Dorsch mit Bratkartoffeln und Spinat. Dazu gibt es lokales Craft-Bier und als Hommage an den fantastischen Sonnenuntergang einen vierfach destillierten, herrlich weichen Vodka.
Mit dem ersten Morgenlicht kommt Leben ins Hafenbecken. Zwei Fischer hieven ihre Stellnetze ins Boot, packen das entsprechende Gestänge dazu, starten den Außenborder und tuckern Richtung Haff. Eine halbe Stunde später füllt sich der Salon unserer Legende mit dem Duft von frisch gebrühtem Kaffee, wir frühstücken und legen ab. Nach rund 40 Motor-Minuten rückt die Marina Trzebież ins Bild. Robert hatte uns beim Hafenmeister angekündigt. Filip – so der Name des Liegeplatzchefs – weist uns einen Stegplatz am Hauptgebäude zu.
„Trzebież“, deutet er auf gut zwei Dutzend 470er, „ist Polens größtes Segelschulzentrum.“ Während die sportlichen Jollen auf ihren nächsten Einsatz warten, restauriert Marcin Węgier in der nahen Werkhalle eine historische 8mR-Yacht. Wie lange denn so eine Restaurierung dauere, erkundige ich mich. „In einem Jahr,“ schätzt Marcin, „ist das Schmuckstück wieder auf dem Wasser.“ Meine Frage, was das Ganze koste, bleibt unbeantwortet – über Preise spricht man (auch) in dieser Branche nicht.
Die Route führt haarscharf an der deutschen Grenze vorbei
13 Uhr: Die Mündung der Oder ins Haff verabschiedet sich im Heck, wir legen den Bug der Jeanneau auf NNW-Kurs, bleiben mit unseren knapp zwei Metern Tiefgang exakt im Fahrwasser und genießen bei eitel Sonnenschein den CO₂-freien Vortrieb. Nach sechs Seemeilen kommt das Leuchtfeuer Brama Torowa 2 in Sicht; Robert lässt die 25 Meter hohe Stabwerkkonstruktion steuerbord querab, geht auf Kurs 260°, passiert die Tonnen TW1 bis TW4 und nimmt dann Dolphin No 7 ins Visier.
Der weiß lackierte Blitzer liegt direkt vor der Hafeneinfahrt des Dörfchens Altwarp und markiert die Grenze zwischen Polen und Deutschland. Wir lassen den „Schlagbaum“ steuerbord, bleiben also auf der polnischen Seite des Haffs und legen nach einer Viertelstunde in Nowe Warpno, dem polnischen Pendant von Altwarp, an.
Während sich Altwarp über die letzten Jahrzehnte zu einer charmanten Reiseempfehlung für Camper und Ferienhaus-Freunde entwickelt hat, scheint Nowe Warpno aus der Zeit gefallen. Bei unserem Spaziergang durch den hübsch renovierten Dorfkern treffen wir – nein, nein, nicht Theodor Fontane – sondern Stefan. Der 53-jährige Berliner ist stolzer Besitzer eines rund 60 Jahre alten Mahagoni-Folkeboots. Dieser wenig preziöse, aber seetüchtige Langkieler – so etwas wie der VW Käfer der nordischen Gewässer – ist sozusagen der Schlüssel seiner Work-Life-Balance. „Beruflich”, erklärt der promovierte Ingenieur, „bin ich in der High-Tech-Kommunikation unterwegs. Bei mir an Bord dagegen gibt es nur Karte und Kursdreieck. Schließlich sind Heyerdahl und Columbus ja auch ohne Satellitennavigation zurechtgekommen.“
Während Stefan zusammen mit seiner Tochter anderntags gegen neun Uhr Richtung Greifswald ablegt, steuern wir die Insel Wollin an. Rund 20 Seemeilen ausgetonnte Strecke liegen zwischen dem bronzenen Fischerdenkmal am Anleger von Nowe Warpno und dem Yachthafen Wapnica. Eine Kaffeefahrt, dachten wir, bei leichtem Wind und – Flachwasser-bedingt – konzentriertem Blick auf Seekarte und Echolot bis, ja bis der Himmel rabenschwarz wird.
Eine Landschaft geformt von Gletschern und Endmoränen
Jetzt heißt es reffen, Sprayhood in Arbeitsposition und rein in die Offshore-Klamotten. Kaum sind die Reißverschlüsse zu, öffnet Petrus die Schleusen. Von Wollins bezaubernder, bis zu 90 Meter hoher Steilküste ist so gut wie nichts zu sehen. Eine Dreiviertelstunde später ist der Spuk vorbei. Unsere Jeanneau liegt wohlvertäut in der Marina Wapnica und wir sind zu Fuß auf dem Weg zum Aussichtspunkt Grodzisko. Angekommen, grüßt 50 m unter uns das Erbe der letzten Eiszeit. Riesige Gletscher und Endmoränen haben den Grundstein für ein Sammelsurium aus Haffabbrüchen, Hügeln, Steilklippen und 40 Liliputinselchen gelegt. Keine Geringere als die UNESCO hat den Blick auf das Naturspektakel zu einer der schönsten Panavisionen Europas gekürt.
Der Legende nach existierte auf Wollin einst eine Stadt namens Vineta. Sie soll reich, dekadent und lasterhaft gewesen sein, war, wenn man so will, so etwas wie das Sodom und Gomorra der Ostsee. Ein böser Fluch spülte die Sünderin ins Meer. Ob Vineta, wie Überlieferungen Glauben machen, an der Stelle des 4.300-Einwohner-Städtchen Wolin stand, ist reine Spekulation.
Wie dem auch sei, wir erweisen der Namensgeberin der Insel am Ufer der Dziwna unsere Reverenz, lassen uns im Restaurant Ka La Fior die Spezialitäten der Region auftischen und steuern dann via Brama Torowa 2 den Kanał Piastowski Richtung Swinemünde an. Die zwölf Kilometer lange Wasserstraße hatte Wilhelm I. als Schnellverbindung vom Haff zur Ostsee bauen lassen. 1880 wird der navigable Highway unter dem Namen Kaiserfahrt eröffnet.
Swinemünde voraus: Ostseestadt mit Premiumstränden
Zu dieser Zeit schreibt Fontane bereits den vierten Band seiner „Wanderungen“. 15 Jahre später, 1894, wird Swinemünde zum Schauplatz seines bedeutendsten Werks. Auf mehr als 350 Seiten hält der Romancier mit dem literarischen Doppelleben seiner „Effi Briest“ dem prüden Bürgertum den Spiegel vor die Nase. Die junge, lebenslustige Effi flüchtet aus der Öde ihrer Ehe, ihr Liebhaber kommt bei einem Pistolen-Duell ums Leben, Effi wird verstoßen und stirbt an gebrochenem Herzen.
Nach eingehender Inaugenscheinnahme der Ostseestadt mit ihren Seehäfen, weitläufigen Hotelanlagen und feinsandigen Premiumstränden tauchen wir mit der Festung Gerhard in die dunkelste Geschichte Swinemündes ein. Ein Ausrufezeichen der ganz anderen Art setzt die wenige Meter von den Kasematten der Festung entfernte Latarnia Morska Świnoujście. Der Zungenbrecher wurde 1859 in Dienst gestellt, ist 64,8 m hoch und damit Polens höchster Leuchtturm. 307 Stufen führen hinauf. Der schweißtreibende Aufstieg wird mit einem traumhaft schönen Blick über die – wie sich die Stadt werbewirksam gerne nennt – „vierte“ der (nur wenige Kilometer entfernten) Usedomer Kaiserbäder Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin belohnt.
Zum Abschluss des Törns machen wir auch einen Abstecher raus auf die Ostsee. Nein, die Ostsee ist im Gegensatz zum Stettiner Haff kein lammfrommes Sonntagsgewässer. Vor allem im Winter führen Sturmfluten immer wieder zu großen Verwüstungen. Die wohl katastrophalste spaltet Fontanes Lieblingsinsel Usedom im November 1872 in zwei Teile. An der gesamten Ostseeküsten sterben damals mehr als 270 Menschen. Welche Priorität der Küstenschutz heute hat, sehen wir bei der Ansteuerung von Kolberg. Nach 50 gute Laune machenden Wind-querein-Seemeilen entlang endloser Sandstrände, umtriebiger Badeörtchen und dichter Kiefernwälder zieht Kolbergs Hafeneinfahrt alle Sicherheitsregister. So wurden die weit ins Meer ragenden, halbkreisförmigen Molen nicht nur durch massige Betonblöcke verstärkt, an den Innenseiten der Molen sind auch kräftige „Stoßdämpfer“ montiert. Sie sollen einlaufende Schiffe bei schwerem Wetter vor folgenschweren Kollisionen mit dem Mauerwerk bewahren.
Hier und jetzt aber zeigt sich Neptun von seiner lammfromm(st)en Seite, die See ist glatt und die beiden Molen ein Hotspot für Möwen, Kormorane und schaulustige Touristen. Zack werden die Handys gezückt und unser Fahrtenyacht-Oldie für die Lieben daheim auf der Speicherkarte fixiert. Eine Viertelstunde später liegen wir im Yachthafen der Stadt. Die Formalitäten sind schnell erledigt, Józef, seines Zeichens Hafenmeister, drückt uns einen Stadtplan in die Hand, erzählt, was wir uns in dem größten Bade- und Kurort der polnischen Ostsee ansehen sollten, und legt uns dann das Restaurant Domek Kata ans Herz.
Fontane war kein Kostverächter und damit in Polen genau richtig
Kolberg selbst entpuppt sich als bunter Mix aus Nizza, Rimini und Rothenburg. Józefs Restaurant-Empfehlung war, sofern man der Überlieferung Glauben schenken mag, vormals ein Gerichtssaal mit einem Anbau (Domek), in dem der Henker (Kat) den Übeltäter nach der Verurteilung vom Diesseits ins Jenseits zu befördern pflegte. Ob die Geschichte wahr oder ein PR-Gag der Gastronomie-Betreiber ist, sei dahingestellt. Die Frage, was ich zu Essen bestelle, ist eine andere Sache. Zur Wahl stehen Wildschweinbraten in Waldpilzsoße mit Buchweizengrütze und gebratener Zander mit Meeresfrüchten. Theodor Fontane wäre die Entscheidung leichtgefallen. Er war kein Kostverächter, aß und trank gerne und vor allem viel. Mit anderen Worten: Er hätte sich beides auftischen lassen. Bleibt nur die Frage: in welcher Reihenfolge …?
Charter
Insgesamt ist das Charterangebot entlang der polnischen Küste eher von kleinen Anbietern mit einem bunten Mix aus Yachten (auch älteren) gekennzeichnet. Die Jeanneau Sun Legende 41 für diesen Bericht wurde zum Beispiel bei Perfekt Czarter in Stettin gechartert. Voraussetzung für die Anmietung und das Führen einer Yacht ist der amtliche Sportbootführerschein See. Im Regelfall erwarten die Vermieter aber auch den SKS sowie das Funkzeugnis. Im Prinzip ist das Revier aber auch problemlos von den Charterstützpunkten in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern zu erreichen (etwa 40 Seemeilen entfernt).
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