Ein Beitrag von
Die Blauwasser-Redaktion recherchiert, produziert und veröffentlicht praxisnahe Themen rund um das Reisen auf dem Wasser. Das Team besteht aus erfahrenen Seglern und Experten.
Wohl kaum ein anderer Segler aus Deutschland hat so viele Seemeilen im Kielwasser gelassen wie das Ehepaar Heide und Erich Wilts (verstorben, 02. Dez. 2022). Durch ihre vielen Reisen in extremen Gebieten gelten sie als ausgewiesene Eis- und Schwerwetterexperten. Weltumsegler Sönke Roever hat die beiden Ausnahmesegler an Bord seiner Blauwasseryacht HIPPOPOTAMUS auf der Kanareninsel La Palma zum Interview getroffen. Entstanden ist ein sehr informatives Gespräch über das Blauwassersegeln, das wertvolle Einblicke in den reichhaltigen Erfahrungsschatz der beiden Segelikonen gewährt.
Ich freue mich, euch beide bei uns an Bord zu treffen, und frage mich, was ihr ohne Boot auf La Palma macht?
Heide: Auf der Insel La Palma hatten sich Ernst-Jürgen und Elga Koch nach dem Ende ihrer aktiven Segelzeit niedergelassen. Sie waren die ersten Deutschen, die von 1964–1967 mit ihrem zehn Meter langen Kielschwerter KAIROS um die Welt segelten. Seit wir auf Einladung der Kochs 1990 La Palma mit unserer Segelyacht FREYDIS besuchten, sind wir immer wieder auf diese schöne Insel zurückgekehrt, auch ohne Boot. Seit zehn Jahren machen wir hier im Dezember Wanderurlaub, während die FREYDIS irgendwo auf der Welt überwintert.
Zunächst ein Blick zu den Anfängen. Wie seid ihr zum Segeln gekommen?
Erich: Ich bin in Leer am Hafen aufgewachsen, hatte mein erstes Boot mit sieben Jahren. Als Schüler segelte ich mit meiner gaffelgetakelten Holzjolle auf Ems und Leda, als Student begann ich als Crew an Bord der Yachten des Hamburgischen Vereins Seefahrt das Hochsee- und Regattasegeln.
Als Heide und ich uns 1969 kennenlernten, sind wir zu Anfang mit Vorliebe mit unserer Finn-Jolle im ostfriesischen und holländischen Wattengebiet herumgeschippert, haben uns an schönen Plätzen trockenfallen lassen und sind übers Watt gewandert. Ein paar Jahre waren wir auch im Spätherbst an der Costa Brava.
Heide: Es war für mich ein Sprung ins kalte Wasser. Ich kannte Erich gerade mal zehn Minuten und da saß ich schon in seinem Finn-Dingi. Wir waren uns am Inselende von Norderney begegnet und segelten im Seegatt zwischen Norderney und Baltrum. Ich hatte vom Segeln noch keine Ahnung, saß rittlings auf dem Schwertkasten und bekam erstmal den Baum an den Kopf und dann das Schwert bei einer ungewollten Grundberührung zwischen die Beine. Es war der Beginn einer großen Liebe (lacht).
Erich: Ja, das war was. Naja, und dann wurden mit der Zeit die Ziele anspruchsvoller und die Boote größer. 1976 bauten wir die FREYDIS I, eine Reinke Super Secura, 11,30 Meter lang aus Stahl mit Schwenkkiel. Ein paar Jahre später folgte nach gleichem Muster die FREYDIS II, 14,35 Meter lang und besonders solide gebaut – unter anderem gab es eine 20 Millimeter starke Bodenplatte aus Stahl. Mit der FREYDIS II waren wir 33 Jahre und 248.000 Seemeilen unterwegs. Wir haben sie 2011 im Tsunami in Japan verloren!
Heide: Das war ein großer finanzieller und traumatischer Verlust für uns. Wir waren bereits 70, haben uns aber trotzdem entschlossen, noch einmal anzufangen. Seit 2012 sind wir nun mit unserer FREYDIS III, einem 17 Meter langen Aluminium-Boot, natürlich wieder mit Schwenkkiel, unterwegs.
Und welche Reisen habt ihr unternommen? Könnt ihr da einen kurzen Überblick geben?
Erich: Wir sind seit 50 Jahren in der Weltgeschichte unterwegs, deshalb ist das nicht so einfach. Anfangs, während wir unseren Berufen nachgingen, waren es fünf- bis sechswöchige Reisen in europäischen Gewässern und dem Europäischen Nordmeer, dann folgten sieben Weltreisen. Die siebte wurde in Fukushima abrupt unterbrochen. Wir haben sie ein Jahr später mit der neuen FREYDIS III fortgesetzt und in 2019 nach 40.000 Seemeilen beendet. Die FREYDIS überwintert in ihrem Heimathafen Leer und wird die nächsten Monate von uns gründlich überholt.
In Stichpunkten lässt sich sagen: Wir haben 20 Ozeanüberquerungen hinter uns. Davon 13 auf dem Atlantik, fünf auf dem Pazifik und zwei über den Indik. Außerdem haben wir 13 Mal das berüchtigte Kap Hoorn umsegelt, waren sechs Mal in der Antarktis, sind über zwölf Mal ins Nordpolarmeer gesegelt und haben 2018 die Nordwestpassage durchquert.
Nordwestpassage, Kap Hoorn, Antarktis und Ozeanüberquerungen! Da gibt es klare Anforderungen an das Schiff. Was war für euch wichtig?
Erich: Alle drei FREYDIS-Yachten sind Reinke-Bauten. Ihnen ist gemeinsam: Knickspanter aus Stahl beziehungsweise Aluminium, Schwenkkiel, geschütztes Ruder und geschützte Schraube, solide Bauweise. Die Boote wurden nach unseren Vorgaben für extreme Reviere konzipiert – vor allem in Bezug auf Hochseetüchtigkeit und Küstentauglichkeit.
Heide: Nach unseren Maßstäben müssen Yachten für solche Fahrten hochseetüchtig und küstentauglich sein, also möglichst aus Metall und mit aufholbarem Kiel. Sie sollten zudem über gute Segeleigenschaften verfügen und mit einer zuverlässigen Maschine ausgerüstet sein und nicht zu viel Schnickschnack besitzen, also überflüssige Technik und Luxus.
Apropos „Technik“. Welche Ausrüstungsgegenstände waren die wichtigsten auf all den Reisen? Und seid ihr beide derselben Meinung?
Erich: Ja, sind wir! Und das ist schnell auf den Punkt gebracht: Anker, Kette und Ankerwinsch – alle drei überdimensioniert. Dann für die Sicherheit: Rettungsinsel, EPIRB, Jordan Drogue Serientreibanker. Und natürlich eine zuverlässige Selbststeueranlage (Windfahne und/oder elektrisch).
Nochmal zurück zum Anfang. Wisst ihr noch, was eure erste lange Etappe war?
Heide: Den ersten großen Törn zu zweit unternahmen wir 1976 mit der neuen FREYDIS I. Er ging von Leer über Bornholm nach Mariehamn auf den Alandinseln und zurück. Unvergesslich: Alles war neu, spannend und aufregend, und vor allem – wir waren glücklich und sehr stolz!
Und dann ging es weiter. Wie war die erste Ozeanüberquerung?
Erich: Das war 1981! Da sind wir von Lissabon über die Kanaren zu den Kap Verden und weiter nach Brasilien. Wir wollten in die Antarktis und rund Südamerika segeln.
Heide: Ich weiß noch, dass wir zwölf Jahre lang immer nur in Nord- und Ostsee und im europäischen Nordmeer gesegelt sind. Das waren lange Reisen, auf denen wir das Wetter so nehmen mussten, wie es kam. Sie waren interessant und abenteuerlich gewesen, aber eben meist auch kalt, stürmisch und verbunden mit vielen Segel- und Hafenmanövern. Damals lag es außerhalb meiner Vorstellungswelt, dass Segeln auch ganz anders sein kann.
Für die Ozean-Passage von den Kanaren nach Südamerika wählten wir die optimale Jahreszeit im Spätherbst: Beständig und zuverlässig begleitete uns der Passat und schob uns wochenlang über die träge wogende See. So lange zu segeln, ohne dass sich die Wetterlage ändert und man zu Manövern gezwungen ist, war für mich eine völlig neue Erfahrung. Das Gleichmaß beim Segeln übertrug sich auch auf unser Leben, gab uns Ruhe, Zeit zum Nachdenken und Muße für kreative Arbeiten. Ich schrieb Gedichte, Texte, erfand neue Speisen, Erich bastelte am Schiff, an dem es immer etwas zu tun gab.
Erich: Ich erinnere es genau: Nachts, während der Wache, lagen wir draußen im Cockpit auf der Schaumgummimatte. Es war wunderbar warm. Der Vollmond war so hell, dass man in seinem Licht sogar lesen konnte – und wir lasen viel. Die Dunkelheit bei Neumond dagegen wurde oft von faszinierendem Meeresleuchten durchbrochen. Delphine jagten ums Boot und sahen dann aus wie Feuerbälle mit weithin sichtbarem fluoreszierenden Schweif. Außerdem gab es reiche Beute an Deck: Fliegende Fische, die im Dunkeln die Falle nicht erkannten, wanderten morgens in die Pfanne.
Heide: Wir waren jung, beide noch keine 40, gingen unbeschwert an die Dinge heran, waren hungrig auf Unbekanntes. Die Globalisierung hatte noch nicht eingesetzt und lange Segelreisen waren noch keine Normalität. Segeln über den großen Teich war noch ein richtiges Abenteuer und Südamerika ein fremder, ferner Kontinent, von dem der Durchschnittseuropäer weniger wusste als heute von Japan oder China. Entsprechend fühlten wir uns wie kleine Entdecker und freuten uns über jeden Erfolg. Denn es war schon ein Erfolg, wenn man ans Ziel kam, und einer obendrauf, wenn man es ohne große Umwege schaffte. Satelliten-Navigation oder GPS existierten noch nicht. Wer über den Ozean segeln wollte, musste mit Sextant, Chronometer und HO-Tafeln umgehen können, peinlich genau sein bei den Messungen und rechnen können.
Seitdem haben wir noch viele Langzeit-Fahrten zu zweit in allen Passatzonen der Erde unternommen, und wir haben sie alle in guter Erinnerung. Aber diese erste Atlantiküberquerung ist für uns die angenehmste und schönste geblieben.
Und was reizt euch am Segeln generell?
Erich: Sowohl das sportliche Segeln selbst als auch das Anlaufen exotischer Ziele. Was die Ziele angeht: Stern-Redakteur Peter Sandmeyer hat unsere Leidenschaft einst auf den Punkt gebracht:
Uns reizt die Anziehungskraft des schwer Erreichbaren
Heide: Nur an den noch relativ weißen Flecken unserer Erdkugel finden wir das, was wir wirklich suchen: ungebändigte Natur, reiches Tierleben und eine in ihrer Ursprünglichkeit belassene Landschaft.
Und wie läuft das dann konkret ab auf See? Wie ist die Tagesaufteilung und wer macht was?
Heide: Nach so vielen Jahren sind wir ein eingespieltes Team. Segeln wir allein – und das tun wir gerne auf langen Ozean-Strecken – so lösen wir uns über Nacht ab: Die eine Hälfte übernimmt Erich, die andere ich. Braucht einer Hilfe bei einem Manöver, so fordert er sie beim anderen an. Bei Segelmanövern arbeitet Erich vorzugsweise am Mast und auf dem Vorschiff, während ich die Winschen im Cockpit bediene und das Boot steuere. Beim Anker-Manöver das gleiche: ich am Steuer und an der Maschine, Erich vorn an der Ankerwinsch. Auch die Arbeit mit den schweren Spibäumen auf dem Vorschiff fällt Erich zu, während ich Schoten, Achter- und Niederholer bediene. Beim Großsegel-Reffen sind wir meist beide im Einsatz. Mit der Rollreffanlage des Vorsegels kann einer allein fertig werden.“
Erich: Navigation ist Aufgabe des jeweils Wachhabenden. Ansonsten bin ich der Maschinist und übernehme auch mal den Abwasch, während das Kochen überwiegend Heides Aufgabe ist: Sie weiß, wo alles gestaut ist, und hat genug Erfahrung.
Heide: Vor allem bei unruhiger See oder bei Sturm bin ich schnell – schon, weil ich sonst seekrank werde. Unterwegs kann man nichts kaufen. Deshalb bin ich mit den Jahren recht kreativ geworden und kann aus dem, was da ist, etwas Leckeres zaubern. Aber die FREYDIS ist ohnehin meist gut bestückt. Wir haben neben einer Kühltruhe auch noch eine Gefriertruhe.
Die FREYDIS III ist mit 17 Metern kein kleines Schiff. Könnt ihr sie gut zu zweit segeln?
Heide: Wir können unser 28-Tonnen-Boot trotz unseres fortgeschrittenen Alters noch gut handhaben – wobei wir inzwischen gerne ein Bugstrahlruder für bessere Manövrierfähigkeit in kleinen Häfen hätten. Aber es funktioniert auch so.
Erich: Im Passatwind segeln wir zu zweit gern mit einer Doppelgenua an zwei Bäumen. Auch bei wechselnden Windstärken kann eine Person allein, auch nachts, die Segelflächen verkleinern, indem sie die Achterholer und die Rollreffleine der Genua über die Winschen im Cockpit fiert oder dicht holt. Bei leichten und mittleren Winden arbeiten wir mit einem Blister, der etwa 160 Quadratmeter groß ist, auf Kursen von 50 bis 140 Grad scheinbarem Wind. Vor dem Wind baumen wir den Blister aus oder fahren ihn als kleinen Spinnaker an zwei Bäumen.
Was vermisst ihr auf See am meisten?
Heide: Ich vermisse Vieles, andererseits merke ich aber auch auf See erst, was wir alles nicht brauchen! Und wir haben gelernt, sparsam mit dem umzugehen, was wir haben.
Erich: Jetzt im Alter trifft es uns härter, dass wir an Bord auf Vieles verzichten müssen – auf Freunde, liebgewordene Alltäglichkeiten wie Zeitunglesen oder Essgewohnheiten. Und, weil wir ja auch viel mit Crew segeln, auch ein wenig das Privatleben. Die gemeinsame Zeit ist mit den Jahren kostbarer geworden, vermutlich auch, weil uns die Endlichkeit des Lebens mehr bewusst ist.
Das Leben auf See bringt viele Herausforderungen mit sich. Welche sind das und wie geht ihr damit um?
Erich: Wir haben Dutzende Male erlebt, dass eine Reise völlig anders lief, als erwartet – oft traten Schwierigkeiten auf, mit denen wir nicht gerechnet hatten: Wetterkapriolen, technische Probleme, Krankheiten und beim Segeln mit Crew gab es gelegentlich auch Probleme im Zwischenmenschlichen. Deshalb ist unsere Grundeinstellung vor jeder Reise „vorsichtig optimistisch“. Wir sind darauf eingestellt, dass der Törn aus Gründen, die wir noch nicht ahnen, schwierig werden könnte und dass wir dann gefordert sind.
Heide: Mir fällt dazu ein, was wir auf unserem Törn durch Melanesien und Mikronesien im Jahr 2014 erlebt haben. Da riss plötzlich das nur zwei Jahre alte Großsegel wie Papier. Dann brach der Ruderquadrant aus Aluminium und beide Selbststeueranlagen fielen aus.
Erich: Da war aber noch mehr! Es bildete sich außerhalb der Wirbelsturmsaison ein Taifun und verbaute uns den Weg nach Guam. Zu der Zeit waren wir beide gesundheitlich angeschlagen: Heide durch ein schmerzhaftes Schulter-Arm-Syndrom, ich durch eine schwere Entzündung nach einem Insektenstich und durch Thrombose-Gefahr. Einige unserer Mitsegler waren vor Angst vor dem Taifun wie gelähmt, obwohl wir durch Wetterwelt in Kiel täglich über die Entwicklung auf dem Laufenden gehalten wurden und keine unmittelbare Gefahr drohte. Dennoch verließen einige Mitsegler fluchtartig das Schiff, als wir eine Insel anliefen.
Und wie motiviert ihr euch in schwierigen Situationen wie diesen?
Heide: Indem wir uns ins Bewusstsein rufen, wie viele kritische Situationen wir schon gemeinsam gemeistert haben. Und indem wir nicht in Panik verfallen, sondern nach Lösungen suchen und uns gegenseitig Mut zusprechen.
Stichwort „Mut zusprechen“. Was war in all den Jahren der schwerste Moment für euch – vom Verlust der FREYDIS II in Fukushima mal abgesehen? Eher auf See meine ich?
Erich: Ganz klar unsere Strandung im Orkan während unserer Überwinterung im Kratersee der Vulkaninsel Deception am Rande der Antarktischen Halbinsel. Das war 1991 in einem Blizzard bei 80 Knoten Wind. Das Schiff schlug Leck! Wir überlebten in einer Nothütte der Argentinier und reparierten in den folgenden sechs Monaten notdürftig unser mit Seewasser und Eis bis an die Decke vollgelaufenes Schiff.
Heide: Auf See waren es die schrecklichen und beängstigenden Stürme im Südindischen Ozean 1994 auf unserer zehneinhalbwöchigen Reise von Südafrika nach Australien. Und die vielen, oft lebensbedrohlichen Stürme am Kap Hoorn und in Feuerland im Zeitraum von fast 20 Jahren – vor allem im Winter.
Vermutlich gibt es umgekehrt auch etliche Höhepunkte, die für immer im Kopf bleiben?
Heide: Natürlich bleiben mir die schönen Sonnenauf- und -untergänge auf hoher See in Erinnerung, die ruhigen Nachtwachen, das Ankommen nach anstrengenden Törns, das Kennenlernen besonderer Menschen und die anregenden Gespräche mit ihnen.
Dazu kommt auch die tiefe Freude, die mich jedes Mal überkommt, wenn ich auf See, am Strand oder an der Küste Tiere beobachten kann – Wale, Seekühe, Robben, Seelöwen, Otter, Grizzlys, Wölfe. Oder wenn ich etwas Wertvolles finde: etwa versteinerte Muscheln, Fellhaare vom ausgestorbenen Mylodon in einer Höhle in Patagonien, Mammutknochen im Beringmeer und vieles andere.
Oder wenn wir mit der FREYDIS historisch interessante Ziele erreichen, über die ich recherchiert habe – etwa die Insel Kayak im Golf von Alaska, wo der deutsche Georg Wilhelm Steller, Teilnehmer der ersten Kamtschatka-Expedition von Vitus Bering 1741, als einziger an Land ging.
Erich: Zuletzt, als wir die Nansen-Bucht auf der Ostseite Grönlands fanden, wo Nansen 1888 aufstieg, um das Inlandeis zu überqueren. Ach, es gab so viele tolle Erfahrungen in unserem Seglerleben!
Erich: Immer wieder gab es geradezu euphorische Momente. Als wir auf unserem ersten Törn Mariehamn erreicht hatten zum Beispiel. Oder als wir im Vulkankrater von Deception 1982 das erste Mal antarktischen Boden betraten. Oft stehen die Höhepunkte in direktem Zusammenhang mit geglückten Herausforderungen: 1992, nach unserer Rückkehr von der Antarktis-Überwinterung, habe ich vor Dankbarkeit den Boden Feuerlands geküsst.
Welcher Typ Mensch ist eurer Meinung nach für solche Reisen geeignet und was genau sind neben dem Segel-Know-how die notwendigen Soft-Skills?
Heide: Motivation, Begeisterung, Tatkraft und Mut zum Risiko sind sicher Voraussetzungen. Diese „weichen Faktoren“ müssen stark sein, nur dann helfen sie auch, harte Zeiten durchzustehen. Auch eine gewisse Leidensfähigkeit muss man mitbringen. Und vor allem den festen Willen, segeln und ans Ziel kommen zu wollen. Halbherzigkeit geht gar nicht. Auch beim Segeln gilt: Erfolg ist eine Sache der Konsequenz!
In den letzten Jahren seid ihr viel mit zahlenden Gästen unterwegs gewesen. Welche Crewkonstellation ist euch am liebsten?
Heide: Wie gesagt, große Strecken segeln wir am liebsten zu zweit. Wir können tagelang nebeneinanderher leben, verstehen uns, auch ohne zu reden. Wenn dann alles läuft, ist das eine wunderbare Atmosphäre und ich fühle mich eins mit dem Kosmos und geborgen. Aber klar, es gibt auch schwierige Zeiten: tagelang Sturm, Kälte, Seekrankheit, Ausfall der Selbststeueranlage und andere Herausforderungen. Dann heißt es: Zähne zusammenbeißen und durch.
Und wenn wir Crew an Bord haben, empfinden wir das gemeinsame Erleben als eine wertvolle Bereicherung. Nicht umsonst heißt es:
Man muss sein Glück teilen, um es zu multiplizieren
Eine eingespielte Crew verringert vor allem in anspruchsvollen Revieren das Risiko für Schiff und Mannschaft und erlaubt sportliches Segeln – auch die Nordwestpassage wurde dadurch einfacher für uns.
Erich: Es ist ja auch so, dass über die Törngebühren die expeditionsartigen Reisen mitfinanziert werden. Natürlich führt das Segeln mit Crew auch zu einer Einschränkung unserer persönlichen Freiheit und als Eigner und Skipper übernehmen wir eine große Verantwortung für unsere Mitsegler, was uns manchmal auch belastet.
Das enge Zusammenleben kostet Kraft. Bei aller Sympathie für unsere Mitsegler freuen wir uns da schon, wenn wir uns einmal ausklinken können und Ruhe einkehrt. Dann kann man auch einfach mal irgendwo ein paar Tage länger bleiben. Mit Crew hingegen müssen wir Rücksicht nehmen auf die Wünsche der Mitsegler und ihren Zeitplan – zum Beispiel auf die gebuchten Flüge.
Heide: So widersinnig es scheinen mag: Im Gegensatz zu anstrengenden Extremreisen, bei denen die Crew zusammenhalten muss, kann das Zusammenleben in weniger anspruchsvollen Passat-Regionen gelegentlich anstrengend werden. Einfach, weil dann die unterschiedlichen Vorstellungen und Interessen mehr zum Vorschein kommen. Zum Beispiel auf einem kleinen Südsee-Atoll mit nichts als Strand, Lagune und Kokospalmen – ganz ohne Flugplatz, Restaurant und Bar. Für die einen liegt dort der Hund begraben, für die anderen erfüllt sich ein Traum. Spannungen sind dann oft unausweichlich.
Erich: Damit die Reise für alle ein Gewinn wird, versuchen wir schon bei der Zusammenstellung der Crews auf vorangehenden Treffen einen möglichst großen gemeinsamen Nenner zu finden.
Gibt es bei euch an Bord, wenn ihr mit Crew segelt, ein Seekrankheits-Management?
Heide: Zu zweit waren wir in den Anfangsjahren oft schwer seekrank. Einer von uns hat dann Kräfte mobilisieren können. Und umgekehrt. Das war lebenserhaltend. Inzwischen gibt es Medikamente, wie Stutgeron oder das Scopodermpflaster, mit dem wir der Seekrankheit vorbeugen können. Wenn alle Stricke reißen, ist ein Vomex-A-Zäpfchen ein sehr wirkungsvolles Mittel, das allerdings auch müde macht.
Erich: Wenn wir Mitsegler an Bord haben, steht das Thema Seekrankheit vor Antritt der Reise oben auf der Tagesordnung. Wir erwarten von allen, dass sie sich dagegen wappnen. Es wird von jedem und jeder erwartet, dass er oder sie die Wachen durchsteht.
Seid ihr der Meinung, dass der Skipper Einfluss auf das Wohlbefinden der Crew hat?
Erich: Natürlich! Skipper oder Skipperpaar haben großen Einfluss. Ein schlecht gelaunter Skipper oder ein Skipper unter Druck ist nicht förderlich. Humor ist wichtig. Überhaupt: Gute Menschenführung ist unabdingbar.
Heide: Aber Skipper oder Skipperpaar sind nicht alleine verantwortlich. Alle Mitsegler müssen zum Gelingen beitragen. Die Erfahrung hat fast jeder schon gemacht: Es reicht manchmal ein Stinkstiefel an Bord aus, um das gute Einvernehmen in einer Crew erheblich zu beeinträchtigen.
Und was macht dann eurer Meinung nach einen guten Skipper aus?
Erich: Natürlich ist die fachliche Qualifikation des Skippers eine wichtige Voraussetzung. Dass er gute Seemannschaft beherrscht, ist selbstverständlich. Genauso wichtig ist aber die Fähigkeit, eine Crew zu führen. Wichtig sind Führungsqualitäten wie Souveränität, Übersicht, Authentizität, Empathie und Kommunikationsfähigkeit. Darüber hinaus sollte der Skipper über gute Menschenkenntnis verfügen.
Heide: Mit guten Führungsqualitäten und mit Menschenkenntnis wird man nicht geboren. Man erwirbt sie im Laufe des Lebens, macht auch mal Fehler und lernt immer wieder dazu. Die Qualität eines Schiffsführers misst sich nicht an seinen guten Vorsätzen, sondern daran, was er am Ende bewirkt hat.
Ein anderes Thema beim Segeln mit Crew ist das Schlafmanagement. Welche Wachsysteme nutzt ihr?
Heide: Meist bilden wir drei Wachen à zwei Personen, wie in der Berufsschifffahrt. Der Siebte kocht und ist Springer. Jede Wache arbeitet für sich und bekommt, wenn nötig, Unterstützung aus der Folgewache. Erich übernimmt immer eine Wache, ich je nach Erfordernissen. Aber gelegentlich weichen wir auch von diesem System ab, beispielsweise in einem anspruchsvollen Revier mit nicht ausreichend erfahrener Crew. Dann bilden wir – zumindest anfangs – zwei Wachen mit je drei Personen. Und wenn wir unterbesetzt sind, lassen wir uns was einfallen: Flexibilität ist dann erforderlich.
Erich: Mit einer Crew an Bord ist die Arbeitsteilung abhängig von der Erfahrung der Mitsegler und vom Segelrevier. Wir schaffen klare Verantwortungen, aber jeder kann alle Aufgaben wahrnehmen – da haben wir keine starren Regeln, sondern überlegen von Mal zu Mal neu, wie wir die Wachen besetzen, damit auf der Reise die Gefahren minimiert werden, alles möglichst reibungslos verläuft, gute Stimmung an Bord herrscht und die Reise für alle ein Erfolg wird!
Ihr habt das Thema „Seemannschaft“ angesprochen. Welche drei wichtigen Punkte kommen euch bei dem Stichwort in den Sinn?
Erich: Wichtig ist vorauszuschauen. Risiken einschätzen, möglichst wissen, was auf Schiff und Crew zukommen kann, vor allem in Küstengewässern. Frühzeitig Manöver einleiten und auf Überraschungen aller Art gefasst sein. Ich muss stets wissen, wie ich dann zu reagieren habe, beispielsweise wenn ein Tau in den Propeller gerät und die Maschine abgewürgt wird. Und ganz wichtig: Ich muss üben! Üben, üben, üben! Hafenmanöver, Ankertechniken und vieles mehr!
Zum Abschluss unseres Gesprächs würde ich mich noch über drei Tipps für angehende Langfahrtsegler freuen?
Erich: Erstens: Warum scheitern so viele schon in der Anfangsphase einer Ozeanüberquerung oder Weltumsegelung? Warum gehen bereits auf dem Weg zu den Kanaren so viele Beziehungen kaputt? Ich glaube, hier klaffen Anspruch, Erwartung und Wirklichkeit oft weit auseinander. Bevor ich als Neuling auf die große Reise gehe, würde ich bei anderen mitsegeln und ausprobieren, wie das so ist. Probieren geht über Studieren! Manche Riesenenttäuschung und mancher hohe Aufwand ließen sich so vermeiden.
Heide: Und Probleme bei Partnern stellen sich automatisch dann ein, wenn einer nur halbherzig mitzieht. Gelingen kann das Unternehmen nur, wenn beide sich voll einbringen und hinter dem gemeinsamen Projekt stehen. Das sollte man vor (!) einer großen Reise klären – indem man eine Yacht chartert oder irgendwo für einen Törn anheuert. Möglichst nicht da, wo ich als zahlender Gast an Bord bin, sondern da, wo ich als Mitglied einer Crew gefordert bin.
Erich: Zweitens: Ich darf mich nicht blauäugig auf die Technik verlassen – die Technik kann im entscheidenden Moment ausfallen. Mit anderen Worten: Simplify your Life! Je mehr Systeme an Bord sind, desto mehr Probleme gibt es!
Heide: Es ist wichtig zu überlegen, was wirklich wichtig ist! Unser Credo lautet in Anlehnung an Antoine de St. Exupéry:
Technische Perfektion ist nicht erreicht, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann!
Vielen vielen Dank für den großartigen und vor allem Mut machenden Beitrag!!!
Sehr nettes Pärchen, die wissen von was sie sprechen. Ich frage mich warum ich das nicht gemacht habe. Aber man sieht das Segeln geht auch im Alter. Die Leidenschaft ist mehr als geweckt. Das Ziel ist gesetzt. “Ruhestand auf dem Wasser”
Vielen vielen Dank für den großartigen, Mut machenden Beitrag!!!
Sehr interessantes Interview, viele tips und neue Erkenntnisse, bin erst am Anfang und am überlegen ob es für mich und meine Frau der Weg in die Zukunft sein kann. Leicht wird es sicherlich nicht aber die Herausforderungen und die Belohnung die in dieser Sache bzw. Lebensweise stecken treiben mich weiter dieses Vorhaben weiter zu verfolgen. Bis dahin wünsche ich Euch weiterhin allseits gute Fahrt und eine Handbreit Wasser unterem Kiel.