Ein Beitrag von
Sönke hat 100.000 Seemeilen Erfahrung im Kielwasser und von 2007 bis 2010 zusammen mit seiner Frau Judith die Welt umsegelt. Er veranstaltet diverse Seminare auf Bootsmessen (siehe unter Termine) und ist Autor der Bücher "Blauwassersegeln kompakt", "1200 Tage Samstag" und "Auszeit unter Segeln". Sönke ist zudem der Gründer von BLAUWASSER.DE und regelmäßig mit seiner Frau Judith und seinen Kindern auf der Gib'Sea 106 - HIPPOPOTAMUS - unterwegs.
Worum geht es bei der Augmented Reality?
Augmented Reality ist ein englischer Begriff, der für die sogenannte „erweiterte Realität“ steht; umgangssprachlich auch kurz „AR“ genannt. Es geht darum, reale Informationen um computergestützte Informationen zu erweitern oder zu ergänzen. Beispielsweise kann im Museum ein Audio-Führer über einen Kopfhörer eine sinnvolle Ergänzung sein. Oder im Yachtbereich könnten Navigationsdaten an Bord einer Yacht im Glas einer Brille des Skippers eingeblendet werden.
Schaue ich bei Wikipedia nach, heißt es dort sinngemäß: „Die AR-Information kann alle menschlichen Sinnesmodalitäten ansprechen. Häufig wird jedoch unter erweiterter Realität nur die visuelle Darstellung von Informationen verstanden, also die Ergänzung von Bildern oder Videos mit computergenerierten Zusatzinformationen oder virtuellen Objekten mittels Einblendung/Überlagerung. Bei Fußball-Übertragungen ist erweiterte Realität beispielsweise das Einblenden von Entfernungen bei Freistößen mithilfe eines Kreises oder einer Linie.“
Als Raymarine ein solches System für den Yachtsport gelauncht hat, hat mich neugierig gemacht, inwieweit das an Bord Sinn ergibt oder hilfreich ist. Oder ist es am Ende nur eine nette Spielerei? Daher habe ich mir bei Raymarine ein Testsystem besorgt und es kurzerhand vor Gran Canaria ausprobiert.
Vorbereitung und Installation
Software-Update
Auf unserer Redaktionsyacht ist bereits ein Raymarine Axiom Display vorhanden und so habe ich es für den Test verwendet. Bevor ich mit der eigentlichen Installation losgelegt habe, musste ich kurz ein Software-Update auf die neueste Version (mindestens Version 3.10) der Lighthouse-Software durchführen, da die neue Technik andernfalls nicht unterstützt wird.
Das Software-Update ist denkbar einfach. Mit dem Gerät wird eine WLAN-Verbindung hergestellt (ich habe dafür mein Smartphone benutzt und einen Hotspot eingerichtet). Das Axiom-Gerät sucht die neueste Version und lädt sie automatisch herunter. In meinem Fall waren es 773,7 Megabyte. Im Anschluss startet das Gerät neu. Es erscheinen eine Software-Info und ein Fortschrittsbalken. Insgesamt startete das Gerät während des Updates dreimal neu. Dann war das Update eingespielt.
Die Komponenten und ihre Verkabelung
Die Installation ist ziemlich einfach. Im Grunde genommen ist es „plug and play“. Es müssen zwei Komponenten installiert beziehungsweise montiert werden. Zum einen eine Kamera (sofern nicht schon vorhanden) und zum anderen die Blackbox des Systems. Ergänzend werden die passenden Kabel in den richtigen Längen benötigt.
Die Kamera
Die Kamera habe ich für den Test auf der ersten Saling montiert. Von der erhöhten Position hatten wir eine gute Sicht. Allerdings gibt es einen Nachteil, den ich gleich vorweg nennen möchte: Wird das Vorsegel ausgerollt, ist die eine Hälfte vom Bild verdeckt. Allerdings werden die meisten Informationen, die das System liefert, eher beim Ein- und Auslaufen in Häfen benötigt und da sind die Segel auf den meisten Yachten vermutlich nicht gesetzt. Doch dazu später mehr.
Hinweis: Erst nach dem Test habe ich erfahren, dass wir bei der Installation einen kleinen Fehler gemacht haben. Normalerweise werden die Informationen zu Objekten über den Objekten angezeigt. Auf den nachstehenden Bildern stehen sie jedoch unterhalb der Objekte. Um dies zu ändern, hätten wir die Montagehöhe der Kamera in den Einstellungen hinterlegen müssen. Dies haben wir versäumt. Das ändert natürlich nichts an der Funktionsweise soll aber der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
Vielleicht auch noch ein Satz zur Verkabelung: Da wir – wie geschrieben – ein Axiom Display einsetzen, ist die Verkabelung der Kamera relativ einfach. Sie wird einfach mittels Raymarine-Netzwerkkabel an einen der freien Anschlüsse am Gerät angeschlossen. Verwendet habe ich die Raymarine CAM210 IP Marine-Kamera.
Die Blackbox
Die Blackbox heißt AR 200 und ist genau genommen ein weißer, runder, flacher Kasten, in dem die Intelligenz des Systems steckt. In der Einheit befinden sich zudem ein Kompass, ein GPS-Empfänger und eine Schnittstelle zu den ganzen Daten, die im Navigationsnetzwerk vorhanden sind. Die Box wird in die NMEA2000/Seatalk-Leitung des Netzwerks mittels eines T-Adapters integriert.
Wichtig ist, dass die Box exakt zum Bug ausgerichtet wird (es gibt eine entsprechende Markierung). Andernfalls kann das System die zusätzlichen Informationen dem Kamerabild nicht an den richtigen Stellen zuordnen.
Wichtig ist auch ein sensibler Umgang mit dem Einbauort der Box, da alles, was eine magnetische Abweichung erzeugt, auch eine Veränderung des AR-Overlays im Kamerabild mit sich bringt. Beispielsweise hatte ich mein Tablet neben der Box abgelegt und auf einmal fuhren alle AR-Informationen an den Bildrand, weil eine Ablenkung von 30 Grad stattfand. Dies gilt es bei der Wahl des Einbauortes zu beachten.
Inbetriebnahme
Ist die Installation abgeschlossen, wird das Axiom-Multifunktionsdisplay (MFD) hochgefahren. Über den Menüpunkt Einstellungen wird die Kamera aktiviert. Außerdem muss eine Kalibrierung, bei der das Schiff einmal im Kreis gefahren werden muss, durchgeführt werden, um den Kompass zu eichen.
Im nächsten Schritt wird die korrekte Ausrichtung der Blackbox vorgenommen. Das geht so: Ich habe mir ein Seezeichen gesucht und direkt darauf zugehalten. Auf dem Kamerabild ist dann schnell zu sehen, ob die zugehörigen AR-Informationen, die das System aus der elektronischen Seekarte zieht, an derselben Stelle angezeigt werden.
Ist das nicht der Fall, wird die Blackbox aus ihrer Halterung genommen und solange gedreht, bis die Informationen übereinstimmen. Das geht gut, weil an der Box etwa alle zwei Grad eine Einrastung zum Fixieren vorhanden ist. Dadurch kann die Box nicht wieder verrutschen, wenn einmal die richtige Ausrichtung erreicht wurde.
Das System in der Praxis
Und dann geht es los! Im Display ist das Kamerabild zu sehen – also quasi der Blick über den Bug nach vorne. Das könnte ich mit einem „realen“ Blick natürlich auch erreichen, aber der Clou der Augmented Reality ist natürlich, dass im Display zusätzliche Informationen eingeblendet werden, die ich mit dem bloßen Auge nicht habe.
Diese „zusätzlichen Informationen“ fallen in drei Rubriken (visualisiert durch die drei Icons am unteren Bildschirmrand im vorstehenden Bild). Erstens: AIS-Daten (linkes Symbol). Zweitens: Navigationsinformationen, die sich aus Wegpunkte und Routen ergeben (mittleres Symbol). Und drittens: Es wird alles angezeigt, was mit der Umgebung sonst noch zu tun hat. Etwa Seezeichen, Uferentfernungen und vieles mehr (rechtes Symbol).
Mitunter kommen auf dem Schirm sehr viele Informationen zusammen. Insofern ist es gut, dass Raymarine ermöglicht, die Bereiche einzeln zu aktivieren oder zu deaktivieren. Auf dem vorstehenden Foto habe ich nur die AIS-Daten aktiviert und alle anderen Informationen ausgeschaltet (siehe grüne Häkchen an den Icons am unteren Bildrand).
Des Weiteren kann ich festlegen, bis zu welcher Entfernung die Informationen angezeigt werden. Das hilft! Mitten auf dem Ozean würde ich wahrscheinlich ein Limit bei 20 Seemeilen setzen. Im küstennahen Bereich hingegen wird das Display dann mit Infos verstopft und es wird unübersichtlich. Hier ist eher eine Range von ein bis zwei Seemeilen angebracht. Auf dem vorstehenden Foto ist der Bereich, in dem AIS-Signale angezeigt werden, auf sechs Seemeilen eingestellt – siehe unten rechts am Bildschirmrand.
Interessant ist auch die Darstellung der AIS-Signale. Klicke ich ein Fahrzeug an – etwa einen Frachter – erhalte ich in einem Schnellüberblick die fünf wichtigsten AIS-Informationen: Kurs über Grund (COG), Geschwindigkeit über Grund (SOG), Abstand am dichtesten Punkt der Annäherung (CPA), Zeit bis zum dichtesten Punkt der Annäherung (TCPA) und natürlich den Schiffsnamen. Zusätzlich sehe ich im Kamerabild genau, welcher Frachter vor dem Bug das ist.
Praktisch ist, dass das System anzeigt, in welche Richtung sich ein Fahrzeugt relativ zu mir bewegt. Das ist vergleichbar mit einer Uhr. Ich fahre nach 12 Uhr. Zeigt ein Schiffssymbol mit dem Bug nach 6 Uhr, also senkrecht nach unten, fährt das Schiff genau auf mich zu. Zeigt der Bug nach links in Richtung 9 Uhr fährt das Fahrzeug in die entsprechende Richtung. Im Umkehrschluss: Würde ich nach Norden segeln, führe das andere Fahrzeug nach Westen.
Die Richtungsinformation alleine sagt allerdings nichts über den Abstand aus. Sie bildet lediglich den COG ab. Die spannende Frage ist aber ja die nach dem CPA beziehungsweise dem TCPA. Hierfür hat Raymarine Farben hinterlegt. Rote AIS-Signale sind auf Kollisionskurs, grüne nicht.
Ein weiteres nettes Feature ist, dass ich befreundete Yachten markieren kann. Tauchen sie in meinem Dunstkreis auf, werden sie in Gelb dargestellt. So lässt sich schnell erkennen, wenn ein befreundetes Fahrzeug in der Nähe ist.
Eingangs hatte ich schon erwähnt, dass ein Vorsegel je nach Kamerastandort das Bild verdecken kann. Logischerweise interessiert das die Blackbox nicht. Im Gegenteil: Ich sehe im Display, was theoretisch hinter dem Segel sein müsste. Das ist natürlich eine trügerische Sicherheit. Um ehrlich zu sein, ich habe mich tatsächlich dabei ertappt, wie ich das Gefühl hatte, dass ich nicht mehr hinter das Segel gucken muss, weil das AR-System ja ohnehin alles weiß. Aber das ist natürlich falsch, weil nicht jedes Objekt auf See ein Signal aussendet.
Praktisch finde ich, dass im Menü eingestellt werden kann, dass das Kamerabild stabilisiert werden soll. Das führt zu einer sogenannten Rollkorrektur. Mit anderen Worten: Der Horizont bleibt immer gerade, auch wenn die Yacht unter Segeln auf der Seite liegt oder in der See rollt. Das hilft. Andernfalls könnte man vom Ansehen des Displays seekrank werden 🙂
Neben der AIS-Darstellung, die ich persönlich am interessantesten finde, können natürlich auch andere Informationen dargestellt werden – insbesondere auch jene, die aus der elektronischen Seekarte stammen, die im System hinterlegt ist. Ich hatte einen Satz Navionicskarten, die mir Hansenautic für den Test zur Verfügung gestellt hat, auf dem MFD laufen und so wurden die entsprechenden Informationen sichtbar.
Neben den Seezeichen und Abständen können zusätzlich mehr oder minder alle Navigationsdaten, die im Netzwerk zur Verfügung stehen, mit einem Overlay in das Kamerabild eingeblendet werden. Ich habe das einmal exemplarisch mit dem eigenen Kurs über Grund (COG) und der eigenen Geschwindigkeit über Grund (SOG) vorgenommen. Interessant: Die Angaben können an eine beliebige Stelle im Display projiziert und in der Größe variiert werden.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Alles, was im Datennetzwerk erkannt wird, kann im Display dargestellt werden und ich kann im wahrsten Sinne des Wortes mittels der erweiterten Realität sehen, was vor dem Bug passiert und welche Informationen ich dazu habe. Beispielsweise kann ich eine Tonne anklicken und sehen, welche Blinkfrequenz sie hat. Sehr praktisch bei einer Nachtfahrt.
Fazit
Es ist schon faszinierend, was sich im Navigationsbereich alles tut, wie sich die Systeme Jahr für Jahr verändern und dem Segler vermeintlich mehr und mehr das Denken abnehmen. In PKWs gehören solche Systeme zum Alltag – etwa eine kameragestützte Einparkhilfe. Auf Yachten hingegen etablieren sich solche Systeme erst langsam, aber stetig.
Ich persönlich fand es spannend zu sehen, was hier möglich ist, und bin positiv überrascht, wie akkurat die verschiedenen, im Netzwerk zugrunde liegenden Informationen dargestellt werden. Der Name „erweiterte Realität“ ist hier definitiv Programm. Spannend stelle ich mir das auch bei Nebel vor, wenn ich eigentlich nichts sehe und trotzdem erfahre, was vor dem Bug passiert – gleichwohl ich das natürlich auch einer elektronischen Seekarte mit Radaroverlay und/oder AIS-Signalen entnehmen kann.
Entwickelt wurde das System ursprünglich für Motorbootfahrer, die mitunter mit sehr hohen Geschwindigkeiten unterwegs sind und folglich einen höheren Nutzen von solchen computergestützten Informationen haben. Wir Segler ziehen mit dem Wind ja eher vergleichsweise gemächlich dahin.
Auf großen Yachten mit tendenziell komplexen Abläufen ist das System sicherlich eine hilfreiche Ergänzung. Auf kleineren Segelyachten hingegen wird es vermutlich eher ein “toy for boys” bleiben, da ich hier in der Regel einen sehr guten Überblick über meine Umgebung habe – vom toten Winkel hinter dem Segel mal abgesehen. Wenn allerdings bei Nebel, Nacht oder Starkregen mit heftigem Gegenwind der Ausguck erschwert wird, kann das System unabhängig von der Bootsgröße hilfreich sein.
In jedem Fall muss sich jeder Skipper der trügerischen Sicherheit der künstlichen Intelligenz bewusst sein und verinnerlichen, dass der klassische Ausguck unersetzlich ist. Dennoch: Eine Bereicherung an Bord ist die AR durchaus und es hat Spaß gemacht, das System vorübergehend an Bord gehabt zu haben.
Du sagst man kann Freunde gelb markieren. Kann man auch Feinde markieren? 😉